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Presse-Infos | Der LWL

Mitteilung vom 13.05.05

Auf der Suche nach Verlorenem
Malerei von Ibrahim CosŸkun im Westfälischen Museum für Archäologie


Herne (lwl). Der Maler Ibrahim CosŸkun stellt vom 13. Mai bis 19. Juni 25 seiner Bilder im Westfälischen Museum für Archäologie in Herne aus. Die Ausstellung ist kostenlos und während der Öff-nungszeiten im Foyer des Museums zu sehen.

Südländische Farben bringen die großformatigen Bilder in das Archäologie-Museum des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL). Ibrahim CosŸkun, der als freischaffender Künstler in der Türkei und in Deutschland lebt, hatte 2003 den westfälischen Archäologen Dr. Daniel Bérenger zu sich in die Türkei eingeladen. Gemeinsam erkundeten sie Kulturlandschaften und archäologische Denkmäler der Südwestküste Anatoliens und begaben sich gleichsam
"Auf die Suche nach Verlorenem".

Die Arbeiten, die unter dem Eindruck dieser Reise entstanden, sind seit Freitag (13.5.) im Foyer des LWL-Archäologiemuseums zu sehen.

Bei der Eröffnung in kleinem Kreis am Donnerstag meinte Museumsleiterin Dr. Barbara Rüschoff-Thale: "Die Bilder zeigen, dass man auch ganz anders als wir Archäologen es tun mit den Relikten aus der Vergangenheit umgehen kann. Wir haben den Platz und die Möglichkeit, so eine Ausstellung mit genug Luft und Licht zu präsentieren."

Mehr als 20 Einzelausstellungen hatte der 50-Jährige seit 1984 in der Türkei und in Deutschland. Seine Werke finden sich in Galerien, Museen und in öffentlichem Besitz, in der Türkei zum Beispiel im Museum des Kulturministeriums in Ankara, der Amerikanischen Botschaft in Ankara und dem Museum für Moderne Kunst in Istanbul, in Deutschland etwa in der Städtischen Sammlung Schweinfurt und der Kunstsammlung des Landtages NRW.

CosŸkun wurde 1955 in Mittelanatolien geboren. Probleme mit der türkischen Politik und die Armut dieser Gegend zwangen ihn, seine Heimat bereits im Alter von 16 Jahren zu verlassen. Er ging als Gastarbeiter nach Deutschland. Aufgewachsen in einer Gesellschaft ohne Bilder, kam CosŸkun hier zum ersten Mal intensiver mit Kunst in Berührung und beschloss, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Von 1979 bis 1984 absolvierte er daher ein Fernstudium der Freien Künste an der Pariser Akademie in Hamburg und lernte zwei Kunstprofessoren aus Berlin näher kennen, die für abstrakte Malerei stehen: Fred Thieler und Gerd Jedermann. Als CosŸkun 1984 wieder in seine Heimat reiste, wurde er festgenommen, fünf Jahre später floh er ins Exil.

"Damit war der spätere künstlerische Weg von Ibrahim CosŸkun sowohl stilistisch als auch inhaltlich vorgezeichnet. Seine Trauer um die Kindheit und um die verlorene Heimat verarbeitet er mit kräftigen Farben in abstrakten, expressiven Bildern, ohne jedoch explizit eine politische Botschaft vermitteln zu wollen. Man kann als Betrachter in die Bilder CosŸkuns eintauchen und dadurch Stimmungen oder Gefühle nachvollziehen, man wird aber keinen erhobenen Zeigefinger finden. Die Bilder lassen Raum für Assoziationen mit dem eigenen Leben, auch wenn es in der Regel nicht so dramatisch war", erklärt LWL-Archäologe Bérenger, der als Kunstliebhaber und Gründer eines Künstlervereins in Bielefeld den Kontakt zwischen Künstler und Museum hergestellt hat.

Westfälisches Museum für Archäologie, Europaplatz 1, 44623 Herne, Tel. 02323 94628-0, www.landesmuseum-herne.de. Öffnungszeiten: Dienstag, Mittwoch, Freitag 9 Uhr bis 17 Uhr, Donnerstag 9 Uhr bis 19 Uhr, Samstag, Sonntag, Feiertag 11 Uhr bis 18 Uhr

Pressekontakt:
Dr. Yasmine Freigang, Tel. 0251 5907-267 und Frank Tafertshofer, Telefon: 0251 591-235
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Der LWL im Überblick:
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit mehr als 16.000 Beschäftigten für die 8,2 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 17 Museen und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 116 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.



Foto zur Mitteilung
Ohne Titel, 2004, Öl auf Leinwand.
Foto: Ibrahim Coşkun


Foto zur Mitteilung
Ohne Titel, 2004, Öl auf Leinwand.
Foto: Ibrahim Coşkun


Foto zur Mitteilung
Ibrahim Coskun (Mitte) mit Museumsleiterin Dr. Barbara Rüschoff-Thale und Kunstliebhaber Dr. Daniel Bérenger.
Foto: LWL/Lagers.


 


Die gezeigten Fotos stehen im Presseforum des Landschaftsverbandes zum Download bereit.



Das Presseforum des Landschaftsverbandes im Internet: http://www.lwl.org/pressemitteilungen

 

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Es ist nicht nur Farbe auf Leinwand.
Zu den neueren Bildern von Ibrahim Coskun

Die Bilder Ibrahim Coskuns haben eine starke Sogwirkung. Schon bei der ersten Begegnung mit ihnen werden wir von der Intensität ihres Ausdrucks gleichsam gefangen genommen. Diese Malerei ist expressiv, sie ist zugleich auch abstrakt, ohne jedoch inhaltsfern zu sein. Es begegnet uns eine bemerkenswerte malerische Qualität, die jenseits des Alltäglichen ist, die sich von Bild zu Bild steigert.
,,Erdbilder" nennt Ibrahim Coskun seine in den letzten zwei Jahren entstandenen Werke. Erde im buchstäblichen Sinn sehen wir in den Gemälden nicht, allerdings werden wir sehr bald gewahr, dass vieles mit Erde zu tun hat. Es ist die heimatliche Erde des Künstlers, die hier immer wieder im Vordergrund steht. Sie ist rauh, sie ist aufgewirbelt im Medium der Farbe, doch sie existiert als Faktum, als Motiv für den Maler. Diese Erde zeigt keine harmonisch gestimmte Landschaft, keine heile Welt, in die der Künstler zurückblicken mag. Alles erscheint von innen her unruhig, unbehaglich und auch beunruhigend. Der Blick des Betrachters folgt einem Pinselstrich und ebenso dem Duktus des Spachtels und versucht sich einzufinden in den Gehalt, den Charakter des hier Dargebotenen. Die Farbe bezeichnet konkrete Dinge wie Häuser oder Fragmente von Landschaft wie auch abstrakte Strukturen. Die Farbe äußert sich in diesen Werken mit aller Macht. Fast wäre man geneigt zu sagen, dass es dem Künstler auf eine Wiederbelebung abstrakt-informeller Strukturen geht, die wir aus der Malerei der 50er und 60er her bestens kennen. Doch wäre diese Interpretation einseitig, sie würde uns auf die falsche Fährte locken, würde Intention und Intuition des Künstlers nicht richtig würdigen. Ibrahim Coskuns Gemälde haben eine Substanz, die zum einen ihren Ursprung in seiner kurdischen Herkunft hat, zum anderen sich auf bittere politische Erfahrungen in der real existierenden Türkei bezieht. Es ist bekannt, dass die Provinz Tunceli, die sich in Mittelanatolien befindet und mehrheitlich kurdisch ist, in den 90er Jahren militärischen Operationen ausgesetzt ist. Auch Ibrahim Coskun ist von diesen politischen Bedingungen nicht verschont geblieben. Die Tatsache, dass mehr als die Hälfte seiner bisher entstandenen Gemälde vernichtet wurde, spielt nur die rein materielle Seite dieses Schicksals wieder.
Das oben beschriebene Aufgewühltsein in den Bildern selbst ist also kein rein ästhetisches. Es charakterisiert die Innenwelt des Malers, der bisweilen traumatischen Geschehen ausgesetzt war. Seine Entwicklung hin zu einer expressiven Malerei ist daher nicht zufallsbestimmt, eher ist es eine Folgerichtigkeit. Die Entscheidung, sich so und nicht anders zu äußern, fordert uns daher allen Respekt ab.
Ein malerisches Phänomen bestimmt nahezu alle Bilder dieser Serie: Es ist die Dialektik von Nähe und Ferne. Ibrahim Coskun zeigt Dinge wie Häuserzeilen zum einen sehr konkret, ja fast zum Greifen nahe, nämlich auf der vordersten Bildebene. Zum anderen erscheint ein gedankliches Einnehmen des Motivs gänzlich unmöglich. Die Dinge wirken fern, sehr entfernt vom Betrachterstandpunkt. Die Häuser wirken gespenstisch verloren in einer Art Albtraumwelt. Und umgekehrt das gleiche: Was fern erscheint, ist näher als zunächst angenommen. Diese malerische Strategie, dieses permanente Verschieben von Nähe und Ferne, ist Bestandteil der Bildästhetik von Ibrahim Coskun, ohne dass es bei der reinen Ästhetik bleibt. Die Welt der Sinne, die mit den Augen erfahrbaren Dinge, scheinen dem Maler in einem bestimmten Moment zu entfliehen, ein Festhalten scheint unmöglich, ist vielleicht auch gar nicht gewollt.
Diese Beobachtung wird durch die Tatsache unterstützt, dass in keinem der Werke - nicht einmal in angedeuteter Weise - Menschen auftauchen. Die Erde, die Häuser, die Landschaft sind verlassen, im bildlichen Sinn ist ausschließlich die Farbe existent. Die Farbe bestimmt die Stimmungswelt des Malers, und zwar mit einer Ausschließlichkeit, die überwältigend ist. Und die Farbe peitscht, vornehmlich in jenen Werken, in denen die Abstraktion besonders fortgeschritten ist. Rot, Blau, Gelb, Grün und Weiß vemischen sich hier zu einer dichten Farbwelt, die für den Maler - und ebenso für den Betrachter - ein Entkommen nicht ermöglicht. Die Farbe wirbelt gleichsam ihr inneres Wesen auf, es blitzt und donnert gleichermaßen, und buchstäblich ist jeder Fleck Bestandteil einer Farbflut.
Bei den Werken, in denen Rot dominiert, liegt der Gedanke an ein Inferno nahe. Wenn Blau sein gewaltiges Gewicht ausbreitet, hat man den Eindruck, dass eine große Wasserflut diese Bildwelt unbewohnbar macht. Auch wenn gedämpfte Farben im Vordergrund stehen, so meine man ja nicht, dass harmonische Welten vor uns ausgebreitet werden. Oft hat man bei den Werken, die aus rosa-gelb-weiß-Tönen bestehen, das Gefühl, dass hier die sichtbare Welt buchstäblich weggefegt wurde - eine sehr persönliche Sicht des Malers auf innere wie äußere Ereignisse.
Es ist nicht nur Farbe auf der Leinwand. Farbe bedeutet für Ibrahim Coskun Existenz. Diese »Erdbilder« sind in Gänze Stimmungsbilder. Sie haben eine aufrührende Ästhetik, sind schrecklich schön. Wer der reinen Farbästhetik folgen mag, wird von ihr aufgesogen - dies ist ein Teil der Identität dieser Gemälde. Wer von der Radikalität dieser Werke emotional betroffen wird, hat eine weitere Dimension entdeckt.
Die Bilder Ibrahim Coskuns fordern. Sie lassen weder unser Gefühl noch unser Gewissen einfach vorbeiziehen.

Tayfun Belgin

Tayfun Belgin, geboren 1956 in Zonguldak/Türkei, ist Direktor des Osthaus Museum Hagen.

 
Erdspuren

Es ist eine Frage des Betrachtungsstandpunktes: Manche Ruinen sind vornehme Zeugen einst blühender Kulturen, andere bloße Spiegel von Zerstörung und Flucht. Einige sind unsichtbar, schlummern erdbedeckt zu unseren Füßen. Diese sucht man, jene flieht man. Einige verbergen Schätze, andere ausschließlich tiefes Leid.
Ibrahim Coskun kennt sich seit frühester Kindheit aus mit Ruinen. Und mit der Erde, die sie umfängt. Dem kleinen kurdischen Bauernsohn sind sie Rückzugsort und Spielsache zugleich. Keine amour fou entsteht da, sondern eine rückhaltlose Liebe, die, das spürt er, ein Leben lang nicht sterben wird.
Die staubigen Äcker rund um seinen Heimatort Tunceli bergen Altertümer, die in den 50er Jahren noch niemanden interessieren. Ihn schon. Mit bloßen Händen gräbt er nach dem Gold seiner Phantasie. Und tatsächlich: Er findet einen realen Schatz, von dem er hofft, er werde seinen sorgengeprüften Eltern mehr Liebe entlocken. Doch der Bronzekrug mit dem zierlichen Figurinengriff enthält nur Asche.
Die Mutter tauscht den Schatz gegen einen Korb aus Plastik.
'Erdbilder' nennt Ibrahim Coskun seine zwischen 1997 und 1999 entstandenen Arbeiten. Das ist sein ganz persönlicher Arbeitstitel, offiziell trägt kaum eines seiner Werke einen Namen. "Ich bin wie damals auf der Suche nach Strukturen von Erde, nach dem, was sie vor mir geheim hält." Hin und wieder gelingt es ihm, eines dieser Rätsel zu entschlüsseln. Dann bekommt der Begriff 'Erde' auf der Leinwand eine haptische Qualität, wird dreidimensional, lebendig. Ein Strudel von Sehnsüchten öffnet sich dem Betrachter, dessen stärkster Sog ein Verlangen nach Berührung ist. Ahnend, dass unter der Anmut der Farben noch ein anderer, metaphysischer Schatz liegt.
Es muss ein Triumph sein, nach Jahrzehnten der Erforschung des eigenen künstlerischen Ich Schatzsucher und -wächter in einer Person zu sein?
Ja und nein. Er würde von etwas anderem malen, wäre da nicht dieser unauslöschbare Drang nach dem Konstruktiven, dem Wiederaufbau, der inneren Rückkehr aus dem äußerlichen Exil. Zurück in eine Heimat, die eigentlich nie so recht eine war.
Coskun mag es nicht, wenn manche seine Arbeiten als pure Sozialkritik interpretiert werden. Ein Artefakt, sagt er, sei das. "Ich male, was ich sehe und gesehen habe. Diese Bilder trage ich in mir: Viele davon sind eben keine schönen Erinnerungen." Punkt.
Punkt? So emotional entladend und therapeutisch für den Künstler sie auch sein mögen, so eindeutig beschreiben manche Arbeiten jedoch auch einen politischen Status quo. Entvölkerte Dörfer, verwaiste Häuser - Coskun skizziert ein Kurdistan, das, sollten die Verhältnisse sich nicht ändern, ausschließlich Geisterstädte beherbergt. Ruinen aus Stein und versteinerte heimatlose Seelen. Hasspotenzial satt für unzählige Generationen.
Coskun ist ein kämpferischer Mensch, der jede Gewalt verabscheut. Ein sanftmütiger Charakter nach außen, von heute seltener, angenehmer Nachdenklichkeit. Kein Konflikt, der sich nicht durch Kommunikation lösen ließe, so glaubt er. Ja, das gilt auch für Probleme von globaler Größenordnung. Ein Dialog mit ihm erlaubt Besinnung; die Zwiesprache mit seinen Bildern verursacht indes aufrührerische Ruhe.
Ich bin in seine Bilder gelaufen, wie man auf einen lange vermissten Freund stößt. Zufällig, ohne Absicht, versunken, auf dem Weg zu etwas völlig anderem als Kunst. Zuerst habe ich sie gerochen, den schweren Atem von Öl auf Leinen. Pure Neugier hat mich an der Ateliertür klopfen lassen. Seither verbindet uns so etwas wie Freundschaft, die Bilder, den Maler und mich. Vielleicht hatte es mit der Leichtigkeit dieses Sommertages zu tun, der so anders war, als das Gros des deutschen Alltags: sonnig, heiß, prall von entschlossener Lebensfreude.
Dass das Klima die Farbwahl bestimmt, der Energielevel, die kreative Kraft - schon wieder ein Klischee. Coskun hatte mehr als ein halbes Leben lang Zeit, sich an die vier Jahreszeiten zu gewöhnen. Dennoch, für seine Arbeit sind sie nach wie vor von zentraler Bedeutung. Spielt das Wetter nicht mit, wird das Malen nicht selten zur körperlichen Tortur. Der kreative Output ist ein anderer, und das ist wertfrei gemeint, denn manche solcher Tage provozieren Arbeiten von besonderer Emphase.
Dass es sein muss, das Malen, steht dabei außer Frage: Coskun beschreibt seine Arbeit als "eine Art Sucht". Nach zwei atelierlosen Tagen kämpft er mit Entzugserscheinungen. Eine Hörigkeit, die gepflegt sein will, die er mit großer Disziplin von einem zum anderen Exzess treibt.
Die Sucht ist ihm kreativer Motor - Disziplin ist Produktivität. Doch Disziplin ist auch Handwerk: Ohne die ständige, fortwährende Auseinandersetzung mit den Gegenständen bildender Kunst, dem Material, der Theorie, dem Zeitgeschehen, das weiß Coskun, hätte er nie zu seiner heutigen Ausdrucksstärke gefunden.
Also wird man doch nicht als Künstler geboren? Vielleicht schon, zum Teil, aber es ist alles eben auch eine Frage der Möglichkeiten. Im Kurdistan der zweiten Jahrhunderthälfte waren die Möglichkeiten gleich Null. Um so mehr wächst die Hochachtung vor der, im besten Sinne kosmopoliten Bildersprache Ibrahim Coskuns.
"Ein Bild ist zuerst ein Bild und dann ein Thema." Ein Satz, der stutzen lässt, vermutlich aber für nahezu alle Arbeiten Coskuns gilt, mit Ausnahme vielleicht der als Wutkompensation gemeinten Serie 'Die wahren Gesichter der X'. Nicht von ungefähr eine der wenigen betitelten Serien, in der er überdies, wie sonst nur selten, der Abstraktion entsagt.
Coskuns Arbeiten sind eigenständig, auch wenn sie Teil einer Reihe sind. Die einzelnen Fragmente einer Arbeit besitzen eine Dinglichkeit, die thematisch wirkt, zumindest in der Phantasie des Betrachters.
Wenn aber ein Bild zuerst ein Bild ist und erst in zweiter Instanz ein Thema, wie - und warum - entsteht dann das Thema? "Manchmal ist es sofort da, manchmal erst nach Tagen." Wie in frühester Kindheit sucht Coskun heute noch nach Strukturen und Konsistenzen. Erst wenn die entdeckt sind, kann er sie bearbeiten, nach seinem Belieben formen und verändern. Nach manch einer Sequenz stellt er fest, dass es das déjà-vu einer Landschaftsfacette war, das ihn getrieben hat, oder vielleicht ein Gefühl diffuser Ohnmacht.
Trotzdem: Auch ein einmal gefundenes Thema ist nur eine Phase. Ein Thema muss für mehrere Bilder taugen, sonst befriedigt es ihn nicht. Phasen haben naturgemäß einen Anfang und ein Ende. Der Bilderfundus, den Ibrahim Coskun noch in sich trägt, ist endlos.
Ein Archäologe hat Coskun vor einigen Monaten erzählt, dass die Bronzeurne seiner Kindheit ein kleines Vermögen wert war. Gerade weil sie nur Asche enthielt.
Der Wert eines Schatzes, eines Bildes, einer Ruine? Letztlich alles nur eine Frage des Betrachtungsstandpunktes.

Birgit Kahle

Birgit Kahle, geboren 1960 in Pinneberg, lebt als freie Journalistin und Autorin in Bielefeld.


"Nein, Kunst hat es da nie gegeben."

"Nein, Kunst hat es da nie gegeben", sagt er über das Dorf im Osten Anatoliens, wo er aufgewachsen ist. Aber was viel schlimmer ist: dort gibt es inzwischen kaum mehr Leben. "Der Ort ist halb ausgestorben, mit Ausnahme der Alten sind sie fast alle weg."
Fast dreißig Jahre ist es her, da Ibrahim Coskun seine dersimer Heimat verließ und als 'Gastarbeiter' nach Deutschland ging; fast zehn Jahre, da er letztmals sein Dorf besuchte, das Heimat zu nennen nur Erinnerung meint und Trauer über ein verlorenes Gut. In seinem Innersten lebt es weiter und artikuliert sich in den Bildern des längst zu einem Bielefelder gewordenen Künstlers.
Wenn er sagt: "Ich male meine Heimat", ist dies allerdings nicht so gemeint, wie es leicht aufgefasst werden kann. Heimat ist hier nicht eine konkrete, äußerlich identifizierbare Örtlichkeit, nicht Gegenstand plakativer Darstellungen in aufklärerischer oder anklagender Absicht; davon hat Coskun nach und nach Abstand genommen. Es besagt vielmehr ein inneres Verständnis, meint Heimat, wie er sie - auch in aller Zerrissenheit - in sich hat, wie er sie fühlt, sich an ihr abarbeitet, um zu (über)leben in der ihm verbliebenen Heimatlosigkeit. Dies ist es, was er symbolisch zu 'beschreiben' sucht in der Sprache abstrakt-expressionistischer Malerei unserer Zeit. Erst darin hat er die Freiheit gefunden, sich adäquat zu artikulieren.
So gesehen sind es Bilder von Heimat als Ort seiner Seele - "Mitteilungen meines Innersten", wie er selber sagt. So sehr auch motiviert und geprägt von seiner konkreten Biographie, seiner Identität als Dersimer, seiner Erfahrung von Verfolgung und Exil, will Ibrahim Coskun sie in einem allgemeinen, einem gewollt verallgemeinernden Sinne verstanden wissen: Wenn seine Kunst für etwas steht, dann für die existenzielle Befindlichkeit eines von Verwurzelung wie Entwurzelung gleichermaßen gezeichneten Menschen wie ihn. Es ist dies ein Standpunkt künstlerischer Autonomie in einem gleichwohl politischen Kontext. Ibrahim Coskun hat ihn sich schrittweise erarbeitet, nachdem er die Grenzen gespürt hatte, an die er mit politisch-plakativer Kunst - ein ihm lange selbstverständlicher Anspruch - gestoßen war: die Grenzen, die die sich entwickelnden künstlerischen Artikulationsbedürfnisse setzten. Als Künstler will er nicht mehr einer Sache, sondern sich selber 'dienen'. Das ist nicht eine Abkehr von der Sache, sondern ein Zugewinn an persönlicher Freiheit, ohne die sich doch für kein politisches Anliegen einzusetzen lohnt.
Ibrahim Coskun nimmt dafür in Kauf, Erwartungshaltungen zu enttäuschen, die ihm gegenüber, dem dersimer Künstler, oft geradezu kategorisch geltend gemacht werden. "Landsleuten ist das viel zu abstrakt", sagt er; die wollen in den Bildern etwas Konkretes erkennen oder wiederfinden - gerade bei "einem von uns", von dem sie eine sichtbare Parteinahme wünschen. Aber auch in seiner deutschen Umgebung ist er auf Unverständnis gestoßen: "Warum malt der, wo er doch Dersimer ist, so oder so ähnlich wie viele andere auf der Welt? Wo bleibt das Besondere bei ihm?"
Dies verweist nicht nur auf jenen sozialen 'Entfremdungsprozess', wie er im Grunde alle moderne Kunst betrifft, die sich mit je eigener, autonomer Bildsprache dem Normierungsdruck herkömmlicher Darstellungs- und Wahrnehmungsmuster widersetzt. Bei Ibrahim Coskun ist es überdies der Status als verfolgter und zur Emigration gezwungener Dersimer, unter dem er oft nur gesehen wird. Es manifestiert sich - und sei es nur unterschwellig - in der Zuschreibung von Merkmalen, die man bei ihm sehen will, von einer ihm angeblich doch gemäßen Rolle, die er auch als Künstler zu spielen habe. Deshalb bekommt er mitunter solche Fragen gestellt, wie sie einem deutschstämmigen Künstler wohl nie gestellt würden; da dürfte niemand darauf insistieren, dass in dessen Malerei irgendein Stück Deutschland oder Deutschsein thematisiert sein müsse.
Zweierlei Funktionalisierungstendenzen sind es mithin, derer sich Ibrahim Coskun zu erwehren hat. Er tut es geradezu kompromisslos, allein seiner Intuition folgend, seinem unruhigen Drang, innere Bilder, Empfinden, Stimmungen aus sich herauszulassen und ihnen Formen und Farben zu geben. "Ich explodiere manchmal, wenn ich vor der Leinwand stehe", sagt er und fügt hinzu: "Wenn ich das nicht könnte, würde ich krank werden."
Die Stille und Ordnung, die sein Atelier ausstrahlen, mögen auf den ersten Blick gar nicht dazu passen. Es ist eine gewisse Abgeschiedenheit, die Coskun gewählt hat, vielleicht auch braucht - teilweise aber auch eine, die ihm die Gegebenheiten aufzwingen. So recht zuhause fühlt er sich in keiner Kunstszene - weder in der des Verbands Dersimerr Künstler noch in irgendeiner der hiesigen Künstlervereinigungen. Selbst dass er dann und wann Käufer findet für seine oft großformatigen Bilder, scheint ihm - bei aller materiellen Angewiesenheit - nicht ganz geheuer. Es könne doch sein, meint er zweifelnd, "dass die was ganz anderes daran interessiert, als mich selber interessiert hat, als meine Motive, meine Geschichte, meine Heimat". Um dann achselzuckend einzuräumen, dass man dem wohl nicht entgehen könne, wenn man vom freien Markt lebt, der auch der "freie Markt der Interpretationen" ist.
Es ist ohne Alternative und also ein mühsames 'Geschäft', sich als freischaffender Künstler zu platzieren. Heimat wird Ibrahim Coskun nur in und mit sich selbst finden.

Niko Ewers

Niko Ewers ist Journalist. Er arbeitet als Redakteur des "StadtBlatt" in Bielefeld und ist Mitglied im Kulturausschuß OWL.

   
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